Spielend über Grenzen

MZ 28.04.2014

Spielend über Grenzen

Es knistert, klopft, klappert, beginnt zu schwingen, zu vibrieren, ordnet, regelt und verliert sich wieder. Pizzicato wie ein Chor von Sirenen. Heulender Wind und Regentropfen im Mund der Kinder. Mäandernde Töne vereinen sich zur Fläche. Dann eine erste verstohlene Melodie, versuchen, verdichten, verlieren.

Wie eine Schöpfungsgeschichte der Musik oder die zyklische Genesis von alledem mit Kochlöffeln, Orchester und Wangenklopfen begann die „Sinfonie für jeden“ von Merlijn Twaalfhoven am Sonnabend im Anhaltischen Theater Dessau. Die Bühne ist offen beinah und hinten blau. Musiker auch da, wo in der großen Oper die Helden abtreten. Ein groß gerahmtes Projekt, welches zeitgenössische Musik auf das Programm stellt, ausgezeichnet mit dem Bürgerpreis der Stadtsparkasse Dessau.

Bernstein-Zitat

Generalmusikdirektor Antony Hermus zitierte zur Begrüßung Leonard Bernstein: Großes brauche zwei Dinge, eine Idee und zu wenig Zeit. Insofern gute Voraussetzungen. Nach Einzelproben waren die Musiker nur drei Stunden am Nachmittag zusammen, mehr als 250 Schüler, vornehmlich der Musikschule „Kurt Weill“, einige Musiklehrer und etwa 40 Mitglieder der Anhaltischen Philharmonie. Hermus begrüßte den niederländischen Komponisten und Dirigenten mit den Worten: „Ein Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt für ein menschliches Miteinander.“

Und wahrlich ist Twaalfhoven ein Grenzgänger. Seine Musik erklang in einem syrischen Flüchtlingslager in Jordanien, überschritt die Grenze auf Zypern oder den Beton, der Israel und Palästina trennt. Auch sonst arbeitet er Genre und Räume überschreitend. Er ist ein Botschafter, der kulturelle Unterschiede nicht nivellieren, sondern feiern möchte. Und seine Botschaft ist Musik. Wenn man die defizitäre öffentliche Rezeption zeitgenössischer und Neuer Musik betrachtet, erscheint die landläufige Ablehnung eher als ernüchterndes Zeichen, eher als ein Bekenntnis zu dem, was längst begriffen wurde, ein Bekenntnis zur gewohnten Ordnung, zur ordentlichen Gewohnheit, ein Bekenntnis, welches neue Erfahrungen ausschließt. Der Ton macht die Musik? Die Tonhöhe zum Beispiel ist ein gewohntes formbildendes Prinzip. Was passiert, wenn die Klangfarbe nicht nur kolorierend mitschwingt, sondern selbst zum Prinzip erklärt wird?

Natürlichkeit und Professionalität

Diese Konzerte über den Mauern, den politischen Ansatz in Twaalfhovens Arbeit hört man auch in der „Sinfonie für jeden“ mit. Er tanzt auch hier auf Grenzen, feiert auch hier Unterschiede, Unterschiede, die auch sichtbar sind. Gut 100 Musiker, die jüngeren meist, musizieren auf Plastikflaschen und Plastikflöten, Klanghölzern und mehr im Saal. Das nimmt die Trennung, schafft Räumlichkeit und Bewegung, belebend. Natürlichkeit trifft zudem auf Professionalität, scheinbar organische Ereignisse auf Präzision. Die Grenzen zwischen jung und alt, Melodie und Geräusch werden überschritten. Und immer wieder scheint Twaalfhoven die Musikgeschichte zu zitieren, einen Dreivierteltakt auch und Passagen, die wie Exzerpte aus klassischen und romantischen Streichersätzen klingen, Wiederholung und Minimalisierung erfahren, zu Mustern werden. So werden Stilrichtungen passiert, als folge die Musik wahrlich der Ordnung eines Kaleidoskops. Klangflächen werden gewebt, bewegen, verdichten, lösen sich auf. Wie eine fragile Zeichnung über der Grundfarbe brechen immer wieder Bläser diese Fläche, fabulieren, singen, sinnieren, nah und fern und schön.

Brückenschlag

Mit dem Rhythmus wird gespielt. Er bricht hervor oder findet sich zufällig, steigert sich bedrohlich marschierend oder feiert ein Fest der Zusammengehörigkeit, greifende Nuancen. Und, Bläser geben es vor, endlich singen alle, als seien sie zusammen. Da erklang gerade der Chor, chorknabengleich, unschuldig schön.

Die „Sinfonie für jeden“ ist ein Brückenschlag in viele Richtungen, spielerisch, nie willkürlich, sich nie an Effekte verlierend. Merljin Twaalfhooven agiert am Pult so zurückhaltend wie mitreißend, wie ein Botschafter, der eine Botschaft hat, deren Gestalt im Suchen zu finden ist.